Aufklärung in England

Aufklärung in England
Aufklärung in England
 
Das Weltbild der englischen Klassik und Aufklärung ging von der Vorstellung aus, dass die Natur nach einem vorgegebenen Ordnungssystem aufgebaut sei, das vom menschlichen Verstand angemessen erfasst und durchschaut werden könne. Da sich die Ordnung der Natur und die Systematik der Ratio zu entsprechen schienen, leitete sich daraus einerseits die Überzeugung ab, auf der Grundlage der Vernunft sei gesellschaftliche Übereinstimmung zu erzielen, andererseits erfreuten sich Toleranz, Empirie, Commonsense und die Ablehnung politischer, emotionaler oder ästhetischer Extreme hoher Wertschätzung. Diese Ideale wurden von Alexander Pope in seinem moralisch-philosophischen Gedicht »Versuch vom Menschen«, das mit Blick auf die klassischen Vorbilder Lukrez und Horaz geschrieben wurde, ausformuliert. Er entwickelte die mittelalterliche Vorstellung einer »great chain of being«, einer hierarchischen »Daseinskette«, weiter und bekräftigte die göttlich gestiftete Harmonie einer ganzheitlichen Natur, in welcher dem Menschen eine mittlere Position zwischen dem Göttlichen und dem Animalischen zukommt.
 
Doch diese Ideale werden von der sozialen Wirklichkeit nicht abgedeckt. Die Großgrundbesitzer beginnen im 18. Jahrhundert mithilfe der alten englischen Politik der Einhegungen (»enclosures«) die freien Bauern in die Position ausgebeuteter Pächter zu drängen, was zur Landflucht und zur Verelendung weiter Bevölkerungskreise führt. Der aus der Not geborenen Kriminalität begegnet man mit einem drakonischen Gesetzessystem, das für etwa 200 Vergehen die Todesstrafe vorsieht (so auch für den Diebstahl von Sixpence). Ein großer Teil des verelendeten Proletariats in den von verheerenden Pocken- und Grippeepidemien heimgesuchten Städten sucht Vergessen im billigen Schnaps. Die gesellschaftlich tolerierte Barbarei dieser Zustände in einer vorgeblich vernünftig geregelten Gesellschaft prangert Jonathan Swift an, wenn er unter Berufung auf die Vernunft in seiner drastischen Satire »A Modest Proposal« (Ein bescheidener Vorschlag, 1729) vorschlägt, irische Babys zu schlachten und zur Linderung der Not in Irland ihr zartes Fleisch zum Verzehr an »Personen von Stand und Vermögen« in England zu verkaufen.
 
Die Veröffentlichung solch radikaler Schriften war möglich geworden durch die Aufhebung des »Licensing Act« 1695; damit war die regierungsamtliche Vorzensur abgeschafft, und eine literarische Öffentlichkeit konnte sich herausbilden. Die Kaffeehäuser, vor allem jedoch Zeitschriften wie »The Tatler« (1709-11) und »The Spectator« (1711-12), in denen die Essays von Richard Steele und Joseph Addison das klassisch-aufklärerische Ideal der unterhaltsamen Bildung illustrieren, wurden zu Foren des intellektuellen Austausches, allerdings vornehmlich für Angehörige des Adels und des Bürgertums.
 
Die Französische Revolution zerstört 1789 die Vorstellung einer grundsätzlich vorgegebenen Harmonie zwischen Natur, Mensch und Gesellschaft. Edmund Burkes Kritik an der Revolution in Frankreich, an der Industrialisierung in England und an der englischen Kolonialpolitik in Irland und Übersee prägt eine Argumentationsweise, die auch im nächsten Jahrhundert aufgegriffen wird: Er betont die Wichtigkeit traditioneller Formen des Zusammenlebens in dörflichen Gemeinschaften, da diese organisch gewachsen seien. Die Französische Revolution jedoch führe zur gewaltsamen Zerstörung der organisch gewachsenen Strukturen der bestehenden Gesellschaft. Mary Wollstonecraft dagegen erhofft durch die Revolution eine Aufhebung der gesellschaftlichen Restriktionen für Frauen. Mit »A Vindication of the Rights of Woman« (Eine Verteidigung der Rechte der Frau, 1798) legt sie einen Meilenstein für die kontinentale Frauenbewegung und widerlegt durch ihren kühl analytischen Stil das (damals) verbreitete Stereotyp, Intellektualität sei eine typisch männliche Begabung.
 
Dr. Annegreth Horatschek
 
 
Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.

Universal-Lexikon. 2012.

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